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Lauf in ein neues Leben


Medaillensammler Homiyu Tesfaye (Foto: Hensel)

Der junge Mann hat die Ruhe weg. Zwei Stunden vor einem Rennen, wenn die Konkurrenz längst das Lampenfieber umtreibt, liegt Homiyu Tesfaye noch in einem Eckchen und schläft. „Ich brauche das“, sagt der 18-Jährige, „dann laufe ich besser.“ Und Laufen, das ist sein Leben. Schon in Äthiopien, seiner Heimat, war er nicht zu bremsen. Die zehn Kilometer zur Schule brachte der junge Afrikaner gerne mal joggend hinter sich. Bei den Schul- und Provinzmeisterschaften rannte er regelmäßig vorneweg. Vor zwei Jahren flüchtete Tesfaye dann nach Deutschland. Warum er die Heimat verließ, seine Eltern und seine vier Geschwister zurückgelassen hat, darüber mag er nicht reden. „Ich spreche nur noch über Sport“, sagt er höflich, aber bestimmt. Auch da gibt es eine Menge zu berichten. Zuletzt gewann der für die Eintracht startende Athlet, der bereits den Frankfurter Silvesterlauf für sich entschieden hatte, bei der deutschen U20-Meisterschaft innerhalb von 90 Minuten die Titel über 1500 und 3000 Meter. Nur eine Woche später überraschte er auf der kürzeren Strecke mit einem Triumph bei den Aktiven.

Dabei hatte er sich zuvor „gar nicht so fit“ gefühlt. Aber auf der Zielgeraden zog Tesfaye, der aufgrund einer Unleserlichkeit auf dem Startantrag in den Statistiken oft unter Tesfave auftaucht, unhaltbar an dem ehemaligen Vizeeuropameister Carsten Schlangen vorbei und gewann in 3:47,34 Minuten. An diesem Wochenende wartet die nächste Herausforderung, die deutsche Cross-Meisterschaft im thüringischen Ohrdruf.

Für Trainer Ralf Schröder kamen die Erfolge nicht überraschend. Bereits 2011 hatte sein Athlet überall überzeugt, wo er angetreten war. Zwar besaß er noch keine Startberechtigung für nationale Meisterschaften, glänzte aber beispielsweise bei der Junioren-Gala in Mannheim mit der Normzeit für die U-20-EM. Was mögliche Starts im Trikot des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) angeht, muss er sich jedoch weiter in Geduld üben: Ein erster Antrag auf die vorzeitige Staatsbürgerschaft wurde abgelehnt; frühestens im nächsten Jahr gibt es eine neue Chance.

Tesfaye tut viel dafür, sich einzuleben. In seinem Wohnheim im Sandweg, wo er mit Leuten unterschiedlichster Nationalitäten untergebracht ist, trainiert er fleißig die deutsche Sprache. An der nahe gelegenen Hans-Böckler-Schule strebt er einen möglichst guten Hauptschulabschluss an, um danach auf die Sport-Eliteschule Carl-von-Weinberg-Schule wechseln zu können. Zwei- bis dreimal in der Woche läuft er unter den prüfenden Blicken seines Trainers, ansonsten auch gerne allein. Im ersten Winter nach seiner Ankunft in Deutschland hatte es ihn dabei kalt erwischt. Gleich mehrmals musste er mit Krankheiten kämpfen − bis Schröder den Grund dafür herausfand: Tesfaye war in kurzen Hosen durch seinen ersten Schnee gejoggt; lange besaß er nicht. Die Trainingsklamotten musste er sich von seinem Essensgeld absparen. Der Verein gab sich vorsichtig: Zu oft, so Schröder, hätten schon Afrikaner angeklopft und um Unterstützung gebeten, sich dann aber wieder aus dem Staub gemacht.

Nach Tesfayes jüngsten Erfolgen hat sich die Kleiderfrage allerdings erledigt: Über die Eintracht hat er einen Ausrüster gefunden und ist seinen Träumen von einem Dasein als Laufprofi und irgendwann einem Marathon näher gerückt. Sein Vorbild ist der äthiopische Volksheld Haile Gebrselassie. Dass Tesfaye großes Talent hat, steht außer Frage. Ob es für mehr als die derzeit im Fokus stehenden Mittelstrecken reicht, muss sich zeigen. Für die längeren Läufe, sagt Schröder, sei er eventuell zu muskulös.

Quelle: Frankfurter Rundschau/Katja Sturm

 


09/03/2012