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Von der Hobbyläuferin zur Weltmeisterin


Sarah Kistner beim Walter Riedle Hauchenberglauf in Weitnau (Foto: Raatz)

Vor einem Jahr war der Name Sarah Kistner lediglich Berglauf-Interessierten ein Begriff. Das hat sich 2014 abrupt geändert. Die 17 Jahre alte Schülerin aus Kronberg hat sich dank ihrer Vielseitigkeit zu einem Lauftalent mit aussichtsreicher Perspektive entwickelt. Kein hessischer Nachwuchs-Leichtathlet hat in der Saison 2014 mehr Medaillen auf internationaler Ebene gewonnen als Sarah Kistner deren drei.


Am wohlsten fühlt sich die gebürtige Frankfurterin im Gelände. So holte sie mit dem U20-Team nach 23 Jahren den ersten WM-Titel im Berglauf nach Deutschland und gewann Silber im Einzel. Bei den Cross-Europameisterschaften lief sie mit der deutschen U20-Mannschaft zu Bronze. Im Stadion überzeugte Sarah Kistner mit Platz drei bei den Deutschen Jugendmeisterschaften über 3.000 Meister in der Altersklasse U18. Dazu kommen auf Hessen-Ebene zwei Jugendbestleistungen im 10 Kilometer-Straßenlauf (U18 und U20) und zwei Titel im Cross und über 3.000 Meter. Dabei vertraut Sarah Kistner ihrem Körpergefühl, ihrer Konzentrationsfähigkeit und ihrem erfahrenen Trainer.

Martin Lütge-Varney kann sich noch gut an seine erste Begegnung mit Sarah Kistner im September 2013 erinnern. "Ich habe schnell gesehen, dass Sarah großes Potenzial besitzt", so der läuferisch selbst noch aktive Trainer mit einer Bestzeit von 35:44,32 Minuten über 10.000 Meter. Die Grundlagen hatte die Schülerin drei Jahre lang mit ihrer Mutter Sabine, ebenfalls einer Bergläuferin, gelegt. Die Naturwege hinauf auf den knapp 800 Meter hohen Altkönig und den etwa 80 Meter höheren Großen Feldberg liegen vor der Haustür.

Beim Osterfelder Berglauf in Garmisch-Partenkirchen, wo auf einer Strecke von 11,9 Kilometern ein Höhenunterschied von knapp 1.300 Metern zu überwinden ist, überraschte Sarah Kistner 2013 gleich bei ihrer Premiere als schnellste Juniorin. Auf Empfehlung eines Lehrers stellte sie sich beim MTV Kronberg vor. Der Rest ist Geschichte.

Behutsam führte Martin Lütge-Varney, von Beruf Bankbetriebswirt, seinen Schützling an das Tempotraining heran. "Das hat gleich gut funktioniert, da Sarah über gute aerobe Grundlagen verfügte." Die Dauerläufe absolviert Sarah Kistner noch immer am Berg. Sie läuft nach Gefühl, variiert das Tempo, schätzt die Abwechslung, die kurzen Schritte. "Außerdem erhole ich mich nach Bergläufen schneller", verrät Sarah Kistner. "Auch wenn die Oberschenkel direkt nach der Belastung ordentlich brennen." So lief sie im Sommer nur drei Tage nach einem Berglauf in den Alpen beim Abendsportfest in Pfungstadt Bestzeit über 3.000 Meter, blieb in 9:55,31 Minuten erstmals unter 10 Minuten. Bei den Deutschen Jugendmeisterschaften steigerte sich Kistner nochmals um knapp vier Sekunden auf 9:51,41 und gewann Bronze. Der Lohn: die Berufung in den C-Kader des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV).


Sarah Kistner und Martin Lütge-Varney (Foto: privat)

"Phänomenales Körpergefühl"

Seitdem sei das spielerische Training "noch strukturierter" geworden, so Lütge-Varney, der stets von "Trainingsempfehlungen", keinen Vorschriften, spricht. Dienstags stehen meist längere, donnerstags kurze Intervalle auf der Bahn auf dem Programm. Sarah Kistner spürt die Fortschritte, merkt, wie ihr die Belastungen von Woche zu Woche leichter fallen.

Martin Lütge-Varney schätzt die schnelle Auffassungsgabe seines Schützlings und beschreibt Kistners Fähigkeit "auf ihren Körper zu hören" als "phänomenal". Der 44-Jährige setzt auf den Dialog, bezeichnet Sarah Kistner und sich selbst als "Team". "Ich ermutige Sarah das Training zu hinterfragen. Es hat am Anfang ein bisschen gedauert, aber mittlerweile klappt das ausgezeichnet." Ein ruhiger Dauerlauf montagabends dient als "Lagebesprechung", danach erhält Sarah Kistner ihren Trainingsplan für die Woche. In Stein gemeißelt sei der aber nicht. "Wenn Sarah müde ist oder wie vor Weihnachten viele Klausuren in der Schule anstehen, will ich sie nicht mit Training überfrachten."

In der Regel umfasst Sarah Kistners Training 5-6 Laufeinheiten pro Woche mit einem Gesamtumfang von 70-90 Kilometern, ergänzt durch zweimal Stabilisationstraining zur Verletzungsprävention. "Das ist für mich das Wichtigste", sagt Lütge-Varney, der sich vor allem mit angelsächsischen Trainingsphilosophien beschäftigt. "Arthur Lydiard und Percy Cerutty haben das Laufen in der Natur betont, Peter Coe (Anm.: der Vater und Trainer von 800 Meter Ex-Weltrekordler Sebastian Coe) das Multi-Pace-Training. Daran orientiere ich mich. Auch das Oregon Project von Alberto Salazar (Anm.: Trainer von Olympiasieger Mo Farah) interessiert mich."

Seine eigene England-Vergangenheit am Isle of Man College hat Martin Lütge-Varney geprägt. Der gebürtige Westfale knüpfte Kontakte zum Oxford University Cross Country Club, schwört auf das Laufen im Gelände. "Davon haben schon viele profitiert." So zum Beispiel unzählige kenianische Spitzenathleten, Kenenisa Bekele und Tirunesh Dibaba aus Äthiopien, die Norwegerin Grete Waitz oder die Marathon-Weltrekordlerin Paula Radcliffe.


Sarah Kistner im Ziel des Darmstadt-Cross (Foto: privat)

Faszination Marathon

Folglich reicht Sarah Kistners erster Trainingsblock 2015 bis zu den Deutschen Crossmeisterschaften am 7. März im Markt Indersdorf (Bayern). In ihrem ersten U20-Jahr möchte Sarah Kistner unter die besten fünf kommen, gerne auch aufs Treppchen. Zu hoch will sie ihre Erwartungen jedoch nicht schrauben. "Lieber lasse ich mich überraschen." Eine Endbeschleunigung wie beim Darmstadt-Cross im November würde für die ehrgeizige Hessin sprechen.

Weitere Fixpunkte im Wettkampfkalender sind die Berglauf-Europameisterschaften in Porto Moniz auf Madeira (Portugal/4. Juli) und die U20-Europameisterschaften im schwedischen Eskilstuna (16. bis 19. Juli) mit den 5.000 Metern, einer Strecke, die Sarah Kistner noch nie auf der Bahn gelaufen ist. Als Qualifikationsleistung fordert der DLV eine Zeit von 16:37,50 Minuten. Martin Lütge-Varney ist vorsichtig und will das Training bis zu den Deutschen Langstreckenmeisterschaften am 2. Mai in Ohrdruf (Thüringen) abwarten. Beim Trierer Silvesterlauf gelang Sarah Kistner auf Asphalt in 16:53 Minuten eine erste vielversprechende Annäherung.

Martin Lütge-Varney ist sich bewusst, dass es gerade nach der nahezu perfekten Saison 2014 nicht immer bergauf gehen kann, auch Rückschläge eintreten können. "Im Langstreckenlauf kommt es auf den langen Atem an." Einen Rat, den sich Sarah Kistner zu Herzen genommen hat. "Ich möchte das Laufen als Leistungssport langfristig betreiben." Der Marathon fasziniert sie. "Ich laufe am liebsten lang. Es ist der Ausgleich zum Schulalltag. Die Anstrengung macht mich glücklich." Die Karrieren von Anna und Lisa Hahner verfolgt sie aufmerksam. "Sie haben sich über die Bahn, den Cross und die 10 Kilometer auf den Marathon vorbereitet."

Sarah Kistner ist sehr heimatverbunden, schätzt die sehr guten Trainingsbedingungen und ihr familiäres Umfeld. Ihre berufliche Zukunft sieht Sarah "auf jeden Fall in den Naturwissenschaften". Ihre Leistungskurse sind Mathematik und Chemie. 2016 steht das Abitur an, sie freut sich auf das letzte Schuljahr. "Dann habe ich mehr Zeit fürs Training." Noch hat Sarah Kistner 36 Wochenstunden, der Unterricht dauert oft bis 17 Uhr, in der 12. Klasse kann sie einige Fächer abwählen. Martin Lütge-Varney freut sich auf eine "spannende Zukunft". "Mal schauen, wo Sarah in zwei, drei Jahren steht."

Tammo Lotz

 


03/01/2015