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Nele Alder-Baerens: Eine Sportreise ins Ungewisse


Nele Alder-Baerens im Jahr 2015 bei der 50-Kilometer-DM in Marburg (Foto: privat)

Vor einigen Tagen ist auf der Website hlv.de ein Text über Florian Neuschwander eingestellt worden. Der „Allesläufer“ aus Frankfurt ist ein Star in den sozialen Netzwerken, die Postings gehen regelmäßig durch die Decke, seine sportlichen Leistungen auf Wettkampfstrecken jenseits des Marathons, dann beginnen im Szenesprech bekanntlich die sogenannten Ultraläufe, sind herausragend. Wenn nun von Nele Alder-Baerens die Rede sein wird, könnte man die Überschrift „Stille Stars“ verwenden, doch die hat schon Frank Elstner für seine Talk-Sitzungen mit Nobelpreisträgern in Anspruch genommen. Es passt trotzdem. Denn über die 37-Jährige aus Berlin, die seit 2014 für den Ultra Sport Club (USC) Marburg startet, findet sich bei der ersten Recherche kaum etwas. Ein, zwei, drei Artikel, das war’s. Und zugegeben, als Mitte Oktober vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) das Nationalteam für die Weltmeisterschaft über 50 Kilometer am 4. Dezember in Doha verschickt wurde, wird es wohl vielen so gegangen sein wie mir: Nele … wer?

Dabei sind die sportlichen Fakten durchaus von Güte: Deutsche Meisterin 2014 (in Kienbaum) und 2015 (in Marburg) über 50 Kilometer, zuletzt auch mit der Mannschaft, beteiligt waren zudem Antje Krause und Ulrike Schmitz. Im Wüstenstaat Katar ist die promovierte Biophysikerin erstmals für die DLV-Nationalmannschaft unterwegs, ihr männlicher Kollege Niels Bubel (Berlin) feiert ebenso seine WM-Premiere über 50 Kilometer. Doch wo andere gelegentlich wortreich in die Offensive gehen, ist Nele Alder-Baerens vorsichtig. „Ich habe großen Respekt vor der WM und zugleich die Sorge, dass ich jemanden enttäuschen könnte, meine Leistung nicht bringen kann.“


Unterwegs beim Berlin-Marathon 2013 (Foto: privat)

Nele Alder-Baerens ist ein Leichtgewicht, bei einer Körpergröße von 1,60 Meter wiegt sie 45 Kilogramm. Und sie hat zwei Handicaps: Seit ihrem 13. Lebensjahr ist sie vollständig taub, zudem extrem kurzsichtig mit zwölf Dioptrien. Beides sind Folgen eines vorzeitigen Eintritts ins Leben - die Läuferin kam bereits in der 27. Schwangerschaftswoche zur Welt. Ihre Innenohrschwerhörigkeit verschlechterte sich seit der Geburt rapide, bei dieser Erkrankung sterben die Härchen-Rezeptoren in der Hörschnecke ab. Unterhalten - allerdings nicht per Telefon - kann man sich mit Nele Alder-Baerens trotzdem. Auch ohne Gebärdensprache, es darf nur keine laute externe Geräuschkulisse herrschen. Ein Cochlear-Implantat (CI), das sie seit ihrem 17. Lebensjahr benutzt, übernimmt dabei die Funktion der Haarzellen in der Hörschnecke, wandelt den Schall in Nervenimpulse um. Das CI hilft, überfordert sie aber beim Laufen, deshalb bleibt es hierbei abgeschaltet. „Dann kann ich Geräusche nicht einordnen und dadurch aus dem Rhythmus kommen. Auch das eigene Taptap der Füße und mein Keuchen verwirren mich.“ Nele Alder-Baerens läuft also in ihrem eigenen Tunnel, nur ihr eigenes Rennen, nur ihr eigenes Tempo, situativ reagieren kann sie nicht.

In Doha kommt erschwerend hinzu, dass der Wettkampf aufgrund der recht hohen Außentemperaturen abends um 18 Uhr gestartet wird. In der Dunkelheit. „Dann ist es besonders schwer.“ Weil sie mögliche Unebenheiten auf dem 5-Kilometer-Rundkurs nicht oder zu spät erkennt, häufiger ins Stolpern gerät. „Und man läuft dann immer mit einer gewissen Gegenspannung.“ Doha, man ahnt es, ist für sie eine Sportreise ins Ungewisse. „Durch die Handicaps sind kurzfristige Absprachen mit Trainern und Betreuern schwer möglich. Alles muss im Vorfeld genau besprochen werden.“ Fest steht: Es wird in Doha anders sein als bei ihren geliebten frühsonntäglichen Trainingsläufen in einer menschen- oder autoleeren Stadt bzw. über Wege mit scheinbar endloser Weitsicht. Nele Alder-Baerens freut sich auf die WM - und auf die Kultur in dem bislang fremden Land. „Ich würde so gerne mal die Wüste sehen.“ Sportlich möchte sie ihre Nominierung rechtfertigen, auf der anderen Seite weiß sie nicht so recht, was sie in Katar erwartet. „Ich habe natürlich von den Menschenrechtsverletzungen und dem wenig rücksichtsvollen Umgang mit der Natur gelesen. Und ich habe eine gewisse skeptische Neugier auf den Prunk und den Überfluss, die verbunden sind mit der Armut direkt daneben.“


Und bei der 50-Kilometer-DM 2014 in Kienbaum (Foto: Heiko Krause)

Nele Alder-Baerens ist Autodidaktin, hat keinen Trainer mehr. Von 1998 bis 2007 wurde sie von Renate Güttler vom OSC Berlin betreut, mittlerweile gestaltet sie ihre Pläne selbst. An wöchentlich fünf Lauftagen kommt sie derzeit auf insgesamt 97 Kilometer. Zu ihrem Pensum gehören tägliche Athletik- und Dehneinheiten sowie einmal pro Woche Schwimmen und Radfahren auf dem Hometrainer. In der Summe ergibt sich ein Aufwand von zweieinhalb bis drei Stunden pro Tag. Zeitlich schafft sie dies gut, an der Berliner Charité hat sie eine Teilzeitstelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Endokrinologie (Neugeborenen-Screening). Und sie ist nicht nur über die ultralangen Distanzen flott unterwegs. Ihr Diplom in Biophysik machte sie in achteinhalb bei einer Regelstudienzeit von zehn Semestern, ihre Promotion („Transportproteine in den Zellen“) begann sie mit 24. Und die Ernährung? „Ich bin kein Vegetarier, esse aber sehr wenig Fleisch und nahezu keine Wurst.“ Aber sehr gerne Fisch. Ihr Credo lautet: „Meine meisten Nahrungsmittel haben nur ein Wort auf der Zutatenliste.“ Also etwa Haferflocken, Äpfel, Möhren, Bananen, Quark, selbstgemachter Joghurt und selbstgebackenes Brot.

Genau genommen ist der aktuelle Sprung ins DLV-Trikot bereits ihre zweite internationale Karriere. Denn von 1998 bis 2006 gehörte die Berlinerin der deutschen Gehörlosen-Nationalmannschaft an, gewann unter anderem eine Goldmedaille, Silber und Bronze bei den World Games of the Deaf, den Olympischen Spielen der Gehörlosen. Und wurde vom Bundespräsidenten zweimal mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet. Noch immer hält sie den Gehörlosen-Weltrekord im Marathon mit 2:46:07 Stunden, gelaufen beim Berlin-Marathon Ende September 2013. „Ein Rekord, der in aller Stille fiel“, schrieb das Laufmagazin „Spiridon“ nach dem Rekordrennen im Spätherbst 2013. Dabei war es eigentlich wie immer - ausbleibende Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum. Gehörlosensport interessiert keinen“, hat Nele Alder-Baerens einmal gesagt.

Die mediale Wertschätzung ist ein wenig größer geworden, seit sie sich dem USC Marburg angeschlossen hat. Der Klub aus Mittelhessen hatte sie nach dem Berlin-Marathon angeschrieben, verbunden mit der Frage, ob sie nicht Lust habe, ihr Engagement auf 50 Kilometer auszuweiten. Seitdem sind viele neue Freundschaften entstanden, ihre persönliche Bestzeit steht seit ihrem Debüt 2014 in Kienbaum bei 3:35:50 Stunden. Weitere wertvolle Erfahrung sammelte sie dann ein Jahr später in Marburg, ein Marathonrennen absolvierte sie zudem noch in Tokio. Macht in der Summe zwei 50 Kilometer-Wettkämpfe und zwei Marathons. „Ich habe noch herzlich wenig Erfahrung“, sagt sie. In diesem Kontext ist die WM in Doha ganz sicher ein großer Schritt nach vorne.

Uwe Martin

 


29/11/2015