DM Kassel, Resümee: Schleichender Abschied einer goldenen Generation
Ariane Friedrich: kämpferisch (Fotos: IRIS)
Überwiegend die Jüngeren und ganz Jungen haben es im Gesamtbild herausgerissen für den Hessischen Leichtathletik-Verband (HLV) beim DM-Heimspiel im Kasseler Auestadion. Die Bilanz insgesamt: zwölf Podestplatzierungen (2/6/4). Junge Erfolgsgesichter waren zum Beispiel Gesa Krause und Lisa Mayer, Eileen Demes, Sarah Kistner und Marc Reuther. Auch Constantin Schmidt (TG Obertshausen) war über 400 Meter ein Kandidat fürs Treppchen. Doch dem 20-Jährigen versagten die Nerven - nach einem Fehlstart wurde er laut IAAF-Regel 162.7 disqualifiziert. Auch diese Athletinnen und Athleten dürften ihren Weg machen, ihnen werden in den nächsten Jahren die Schlagzeilen gehören. Insofern hat sich bei den 116. Deutschen Meisterschaften auf heimischem Boden vor insgesamt 28.700 Zuschauern an zwei Tagen ein Generationenwechsel vollzogen. Denn die knapp unter sowie knapp über 30-Jährigen taten sich bis auf zwei Ausnahmen schwer. Es ist eine goldene Generation der Jahrgänge 1983 bis 1986, die seit mehr als zehn Jahren im Rampenlicht steht. Und deren sportliche Karrieren allmählich dem Ende entgegengehen. Das ist der normale Lauf der Dinge im Hochleistungssport - niemand bleibt für immer.
Betty Heidler: Sie ist auf Abschiedstournee. Ihr Entschluss steht fest - nach dieser Saison kehrt Betty Heidler dem Hammerwurfring den Rücken. Es würde den Rahmen einer überschaubaren Aufzählung sprengen, alle wichtigen Siege und Platzierungen von Betty Heidler aufzuzählen, erwähnt sei deshalb nur folgendes: Weltmeisterin 2007, Europameisterin 2010, Universiade-Siegerin, Zweite der U23-EM 2005, ein Weltrekord, der vier Jahre Bestand hatte (79,42 Meter/2011), zweimal WM-Zweite und natürlich Olympiadritte (2012) und -vierte (2004). Betty Heidler von der LG Eintracht Frankfurt ist eine intelligente Athletin, und so hat sie auch ihren Ausstieg klug gewählt: Zwei internationale Meisterschaften nimmt die 32-Jährige noch mit - die EM und Olympia in Rio - dann ist Schluss.
Sabine Rumpf: Der Beruf geht vor
Sabine Rumpf: Deutsche Meisterin der A-Jugend 2001, deutsche Juniorenmeisterin und U23-Europameisterin 2005, deutsche Meisterin 2008 und EM-Siebte 2010. Die Bestleistung von Sabine Rumpf (LSG Goldener Grund/Selters) stammt aus genau diesem Jahr: 62,21 Meter - weiterhin Hessenrekord. Bereits in dieser Saison ist die 33-Jährige kürzergetreten, nachdem sie im zurückliegenden August im Urlaub bei einem Trampolinunfall eine komplizierte Sprunggelenksverletzung im rechten Fuß erlitten hatte. In Kassel hat sie aller Voraussicht nach zum letzten Mal an einer DM teilgenommen. Ergebnis: 53,19 Meter, Platz acht. Sabine Rumpf, die in Oberursel einer Streifendienstgruppe der Polizei angehört, strebt eine Verbeamtung auf Lebenszeit an, der Beruf hat nun eindeutig Vorrang.
Ariane Friedrich: Was sich an diesem 19. Juni 2016 im Auestadion abspielte, war ein Drama. Ariane Friedrich war im Einspringen locker über 1,80 Meter gefloppt, den Wettkampf beendete sie verletzungsbedingt vor ihrem dritten Versuch über 1,87 Meter. Ins Protokoll gingen 1,84 Meter ein, Saisonbestleistung. Dann gab es Tränen. Das ARD-Interview hatte die 32-jährige Eintracht-Athletin, die im Umfeld von Erfurt wohnt, noch tapfer durchgestanden, direkt danach klammerte sie sich an den Tribünenzaun. Noch später, sie hatte gerade Autogramme verteilt und ihre Sporttasche geschultert, war die deutsche Rekordhalterin völlig aufgelöst. Wie auch ihr Trainer Günter Eisinger. „Wenn man überlegt, was sie alles investiert hat…“ Sogar ihr Physiotherapeut war während des Wettkampfs in den Innenraum gekommen, um das linke Knie zu checken und eventuell zu retten, was nicht mehr zu retten war. Eine genaue Diagnose steht noch aus. Der erste schmerzhafte Verdacht lautet Meniskus- oder Knorpelverletzung. EM und Olympia 2016 - das ist alles weit weg. Ariane Friedrich muss jetzt erst einmal gesundwerden. Einen Achillessehnenriss hat sie bereits mit einem Comeback überstanden, sie ist Mutter einer Tochter und beim Blick auf ihre Bestleistung (2,06 Meter/2009) wird deutlich, was da für eine riesige Lücke klafft. Die EM-Teilnahme ist nicht mehr zu retten, ihre dritten Olympischen nach 2008 und 2012 wohl auch nicht mehr. Quo vadis, Ariane Friedrich?
Martin Günther: Die Stadion-Moderatorin Julia Nestle fragte vor dem Wettkampf: „Was hat er drauf bei seinem Heimspiel in Hessen?“ Gemeint war Martin Günter von der LG Eintracht Frankfurt. Vor zwei Jahren war er deutscher Hochsprungmeister im Freien (2,25) und in der Halle, vor sechs Jahren hatte er sich als Hallenmeister auf 2,30 Meter verbessert und wurde wenig später WM-Achter. Lange, aber wirklich ganz lange, liegt sein Titel bei den U18-Weltmeisterschaften zurück (2003). Im Kasseler Auestadion wurde er nun Fünfter mit 2,10 Meter. „Der Titel war noch nie so billig“, sagte er. Enttäuscht und genervt. Eike Onnen (Hannover) gewann mit 2,20 Metern. Schon die vergangene Saison war höchstens ein Status-Quo-Plateau gewesen, und die aktuelle läuft auch nicht gerade gut. 2,20 Meter hat der Wahl-Hesse stehen, erreicht in seinem bislang einzigen regenfreien Wettkampf des Frühjahrs. 2,20 Meter, das springt der Polizeikommissar auch im Training. „Eigentlich bin ich fit“, sagt er. Die Saison geht weiter - wie hoch geht es noch? Das Thema Amsterdam ist durch, Rio (Norm 2,29 Meter) weit weg. Günther will jetzt bei den Meetings in Bühl und Köln an den Start gehen, dann wird man sehen. Frust, sicherlich. Aber Gedanken an ein Karriereende? „Ich will noch nicht drüber nachdenken. Es ist noch nicht rum. Schließlich gibt es ja auch 2018 eine wichtige Veranstaltung.“ Die EM in Berlin. Im Oktober wird der Angehörige des Jahrgangs 1986 30 Jahre alt.
Kamghe Gaba: Schwierige Saison
Kamghe Gaba: Man muss Kamghe Gaba bewundern. Er hat auch um seine Gesundheit gekämpft, fünf Wochen nach seinem Muskelfaserriss im Oberschenkelbeuger war er bei der DM wieder wettbewerbs-, aber verständlicherweise nur bedingt konkurrenzfähig: 46,75 Sekunden als Vorlaufsieger, 47,01 Sekunden als Final-Vierter. Der 32-Jährige biss auf die Zähne, doch auf den letzten Metern fehlte das Stehvermögen. Gaba, dessen persönliche Bestzeit bei 45,47 Sekunden (2006) steht, hat bislang eine schwierige Saison hinter sich. Gut möglich, dass der DLV eine 4x400-Meter-Staffel für die EM nominiert, dann wäre er wohl dabei. Dass der Frankfurter den Zenit seiner Leistungsfähigkeit als Viertelmeiler überschritten hat, steht aber außer Frage. Einst war er als Zweiter der U20-EM 2003 das größte deutsche Talent im Nachwuchsbereich, Fachleute trauten ihm eine Zeit unter 45 Sekunden zu, doch Gaba blieb aus unterschiedlichen Gründen ein unerfülltes Versprechen für die ganz schnellen Zeiten, wie sie die west- und ostdeutschen Läufer in den 1980er Jahren erreicht hatten.
Uwe Martin
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20/06/2016